Rund 4000 Wochen stehen uns zur Verfügung, wenn wir ein durchschnittliches Lebensalter von 80 Jahren erreichen. Das ist der Ausgangspunkt des Journalisten und Autors Oliver Burkeman und seinem Sachbuch „4000 Wochen – Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement“. Statt weiterhin auf die Optimierung von Terminkalendern und To-Do-Listen zu setzen, begibt sich der Wahl-New-Yorker auf eine erfrischend ehrliche Reise zu dem, was das Leben wirklich ausmacht.
Da ich schon nach den ersten Kapiteln zum Burkeman-Fan geworden bin, stelle ich dir neben der Besprechung seines Bestsellers von 2022 auch kurz sein Folgebuch vor: „Das Glück ist mit den Realisten – Warum positives Denken überbewertet ist“.
Solange man jede Stunde des Tages mit irgendeiner Form von Anstrengung verbringt, kann man an dem Glauben festhalten, dass all dieses Bemühen einen irgendwohin bringt – zu einem imaginierten zukünftigen Zustand der Perfektion, einem Himmelreich, in dem alles glattläuft, die Begrenzung der eigenen Zeit nichts Schmerzhaftes mehr ist und man von dem schuldbewussten Gefühl befreit ist, dass man mehr tun müsste, um die eigene Existenz zu rechtfertigen.
Oliver Burkeman, „4000 Wochen – Das Leben ist zu kurz für Zeitmanagement“ (S. 171-172)
4000 Wochen und die Illusion der Kontrolle
Mancher Leser könnte ihn eventuell erbarmungslos nennen, wenn er auf über 250 Seiten systematisch die Illusion zerstört, dass wir alles Wichtige in unserem Leben unterbringen könnten. Die Botschaft des britischen Autors ist klar: Es wird immer unerledigte Aufgaben geben, Reiseziele, die wir nie besuchen werden und Karriereträume, die sich nicht verwirklichen lassen.
Die gute Nachricht: Das ist völlig normal und in Ordnung. Die Akzeptanz unserer menschlichen Begrenztheit ist für Burkeman der Schlüssel zu einem erfüllten Leben, in dem wir uns auf das Wesentliche konzentrieren – und uns vor allem darüber klar werden sollten, was UNS wirklich wichtig ist, nicht der Gesellschaft, den Eltern oder Nachbarn.
Wenn wir einsehen, dass wir auf jeden Fall in unserer Lebenszeit auf viel verzichten müssen, können wir uns die Angst sparen, etwas zu verpassen. FOMO ade! Es ist schließlich bekannt, dass die Angst kein guter Berater ist – und die scheinbar perfekten Social-Media-Lebensbilder von anderen sind es auch nicht.
Um zu diesem Punkt zu gelangen, hat sich Burkeman mit vielen Philosophen, Psychologen und spirituellen Lehrern befasst, die auf eine friedvollere und sinnvollere Lebensgestaltung setzen.
Warum es nie genug ist
Sicherlich kennst du es auch: Wenn eine noch effektivere Morgenroutine oder ein neues technisches Gerät wie ein Saugroboter mehr Freiräume schafft, wird diese Zeit direkt wieder mit neuen Aufgaben gefüllt. Gehetzt von unrealistischen Anforderungen dreht sich das Hamsterrad ständig weiter, bis wir im schlimmsten Fall zusammenbrechen.
„Erst die Arbeit, dann das Vergnügen“ ist beispielsweise so ein Spruch, der mein Handeln stark bestimmt. Deshalb fühle ich mich bei Burkemans Ausführungen immer wieder ertappt. Auch mein Selbstwertgefühl hängt stark von meinen Leistungen ab. Aber kann es wirklich eine gute Motivation sein, ständig mehr tun zu müssen, bevor ich mir irgendwann endlich erlauben kann, einmal abzuschalten und mir Ruhe zu gönnen? Wann soll das sein? Wenn die Kinder aus dem Haus sind oder ich in Rente gehe? Das Leben findet jetzt statt und nicht in der unbestimmten Zukunft. Eventuell werde ich keine 80 Jahre alt und habe gar keine 4000 Wochen zur Verfügung.
Dazu kommt ein weiterer Impuls des Buches: Wenn ich jede Minute des Tages bereits mit Pflichten verplant habe, könnten mir so einige kleine Wunder entgehen.
Aber schlau wie der Autor ist, mahnt er auch in Sachen Achtsamkeit zur Vorsicht: „Das Problem ist, dass das Bemühen, im Hier und Jetzt präsent zu sein, in Wirklichkeit nur eine leicht veränderte Version der instrumentellen, zukunftsfixierten Einstellung ist […]“ (S.157). Wer also auch an die Gegenwart mit einer großen Erwartungshaltung herangeht, laufe Gefahr, das Erlebnis zu schmälern. Selbst der Urlaub kann zur Pflicht werden, wenn wir erwarten, danach entspannt und umso produktiver zu sein.
Zeit als kostbares Gut
Ein zentrales Thema des Buches ist die Endlichkeit und die Notwendigkeit, sich auf das zu fokussieren, was für uns persönlich zählt. Oliver Burkeman ermutigt, weniger zu tun, aber diese Dinge mit voller Hingabe zu erledigen. Seine Argumentation lautet, dass wir nicht unsere begrenzte Zeit damit verbringen sollten, unsere Produktivität zu maximieren. Stecken wir erstmal in der „Produktivitätsfalle“ fest, wird es schwierig eine gesunde Work-Life-Balance zu erreichen. Falls es so etwas überhaupt geben kann.
Wir vergessen, so Burkeman, dass wir uns eventuell nicht fragen sollten, wie wir noch mehr leisten können, sondern ob diese ganzen To-Dos nötig bzw. überhaupt zu schaffen sind. Produktivität kann sogar zur Vermeidungstaktik werden, indem wir uns an der Sinnfrage vorbeimogeln, weil wir vor lauter Aufgaben überhaupt keine Zeit mehr zur Reflektion haben.
4000 Wochen: Zeit für das süße Nichtstun
Laut Burkeman ist unsere Gesellschaft auf „grenzenlose Produktivität, Zerstreuung und Geschwindigkeit ausgerichtet“ (S. 47). Wer sich davon löst und auf das Wesentliche besinnt, kann diese Entscheidung als kraftvoll, befreiend und sinnstiftend erfahren. Geduld (die Burkeman auf Seite 196 „die uncoolste, aber vielleicht wichtigste Superkraft“ nennt) kann dazu ein entscheidender Schlüssel sein.
Zum Wesentlichen gehört übrigens auch das Nichtstun – für mich persönlich eine der größten Herausforderungen. Wer ständig etwas tun muss, treffe eventuell schlechte Entscheidungen und stehe unter konstantem Leistungsdruck. Das kann ich nur zu gut nachvollziehen. Die Dinge einfach sein zu lassen, wie sie sind, Nichtstun, Geduld und Akzeptanz mehr zu schätzen, das nehme ich mir nach der Lektüre sehr zu Herzen.
Was wäre, wenn wir ewig leben würden?
Beim Lesen von „4000 Wochen“ muss ich an eine meiner Lieblingsserien denken: In der Vampir-Mockumentary „What We Do In The Shadows“ geht es öfter darum, wie wenig Bedeutung die Zeit hat, wenn das ewige Leben gewiss ist. Warum nicht jahrhundertelang in der Bibliothek sitzen und lesen? Doch ist dieser Zustand wirklich beneidenswert? Was wäre dann überhaupt noch wichtig? Würden wir noch versuchen, die Augenblicke mit Leben, Liebe und Sinn zu füllen, wenn wir einen unbegrenzten Vorrat an Zeit hätten?
Deshalb, so berichtet Burkeman, sind für manche Menschen schwere Krankheiten oder andere Schicksalsschläge wie Weckrufe, die sie wachrütteln. In der brutalen Konfrontation mit der Sterblichkeit stellen wir uns oft erst die wichtigen Fragen und übernehmen Verantwortung für unsere Entscheidungen.
Praktische Tipps für erfüllte 4000 Wochen
Trotz der philosophischen Tiefe bleibt Burkeman in „4000 Wochen“ lebensnah und bietet interessante Ratschläge, wie sich die Zeit bewusster und erfüllter gestalten lässt.
Er schlägt beispielsweise vor, das, was uns wirklich wichtig ist, direkt am Anfang des Tages zu tun. Damit wird sichergestellt, dass es nicht untergeht. Es helfe auch, die Zahl der laufenden Projekte zu begrenzen. Lieber Größeres abarbeiten, als an zu vielen Stellen nur kleine Schritte zu machen. Natürlich sollten wir auch üben, konsequent Nein zu sagen und die Zeit auf schöne Weise mit anderen zu teilen, um mehr Sinn im Leben zu erfahren.
Anstatt ständig nach mehr Kontrolle zu streben, empfiehlt der britische Autor, wie bereits erwähnt, das Leben mit all seinen Unwägbarkeiten anzunehmen. Ein weiterer Faktor für ein erfüllteres Leben ist die Dankbarkeit – denn letztendlich seien auch ätzende Momente, wie das nervenaufreibende Im-Stau-Stehen, besser als tot zu sein.
Auch für Kompromisse sollten wir offener werden und die Möglichkeit des Scheiterns akzeptieren, anstatt uns zu drücken, unentschlossen und eventuell auf lange Sicht handlungsunfähig zu bleiben.
Zudem stellt Burkeman viele kluge Fragen an die Leser, für deren Beantwortung du dir unbedingt ausreichend Zeit nehmen solltest. Und ganz am Schluss wird er mit zehn Tipps für den Umgang mit der eigenen Endlichkeit noch mal richtig konkret.
Umdenken geht nicht von heute auf morgen
So einleuchtend die Tipps klingen, erscheint es mir in unserer heutigen Leistungsgesellschaft schwierig, diese alternative Denkweise zu übernehmen. In meinem Lebensumfeld durchzieht das leistungsorientierte Prinzip den Alltag – von den Hausaufgaben der Kinder bis zu den knappen Abgabefristen im Job. Sich querzustellen, auf den Pause-Knopf zu drücken, aus dem Hamsterrad auszusteigen, das kann mir momentan nur in kleinen Momenten gelingen. Aber vielleicht reicht es anfangs, zu wissen, dass es anders gehen könnte. Reflektion ist schließlich der erste Schritt hin zu einer Veränderung.
Ein tiefgründig-leichter Blick auf 4000 Wochen
Was „4000 Wochen“ für mich besonders auszeichnet, ist der Schreibstil von Oliver Burkeman. Er schafft es, komplexe und oft auch unbequeme Wahrheiten auf eine leicht zugängliche Weise zu vermitteln. Dabei ist stets deutlich, dass er sich während seiner Karriere als preisgekrönter Feuilletonist für den „Guardian“ („This Column Will Change Your Life“) und Journalist für die „New York Times“ und das „Wall Street Journal“ gut mit der Materie auskennt. Er hat ein breites Wissen in den relevanten Themengebieten der Philosophie und Psychologie. Außerdem war er sich nicht zu schade, zahlreiche Selbsthilfe- und Zeitmanagement-Methoden auszuprobieren, was Burkeman zum Teil mit viel Situationskomik schildert.
Sein trockener Humor und die Fähigkeit, tiefgründige philosophische Einsichten in klare und prägnante Worte zu fassen, machen das Lesen nicht nur bereichernd, sondern auch zu einem wahren Vergnügen. Als Autor versteht er es, den Leser zu fesseln und gleichzeitig zum Nachdenken anzuregen. Da fällt es auch nicht weiter ins Gewicht, dass es mir manchmal so vorkommt, als ob sich einige Punkte wiederholen. Viele der beschriebenen Ansätze und Ansichten sind nicht neu und nicht überraschend, aber sie kommen bei mir besser an und wirken nachhaltiger, weil ich Burkeman schätze. Ich habe immer wieder das Gefühl, als würde ich einem Freund zuhören.
Folgebuch „Das Glück ist mit den Realisten“
Burkeman zeigt wie die Kehrseiten von positiven Affirmationen, dem Gesetz der Anziehung, dem Streben nach Unsterblichkeit, dem (Irr-)Glauben ans ewige Glück und dem Amerikanischen Traum aussehen.
Mich haben vor allem die vielen Beispiele nachdenklich gestimmt, in denen wir Menschen dazu bereit sind, unsere Vergänglichkeit um jeden Preis verdrängen zu wollen. Da sind die Bergsteiger am Mount Everest, die beim Erklimmen oder auf dem Abstieg vom höchsten Gipfel der Welt allzu oft ihr Leben lassen. Außerdem gibt es viele ehrgeizige Persönlichkeiten, die in der Wirtschaft über Leichen gehen bzw. an der Realität vorbei agieren und damit so manche ökonomische Blase produzieren.
Interessante Studien widmen sich der Frage, welche Charaktereigenschaften notorische „Glücksritter“ mitbringen und welches katastrophale Ausmaß das Zerplatzen von künstlich aufgebauschten, wirtschaftlichen Blasen weltweit haben kann. Zudem spricht Burkeman darüber, warum wir immer wieder scheitern, aber nicht darüber sprechen wollen und uns somit die Chance verbauen, aus den Fehlern (anderer) zu lernen.
Zufrieden sein anstatt dem Glück hinterherjagen
Auch in diesem Sachbuch geht es darum, welchen Preis das Hoffen auf eine bessere Zukunft hat, wenn es uns daran hindert, im Hier und Jetzt aktiv zu sein – und zwar nach realistischen Maßstäben und nicht nach unerreichbaren Standards.
Burkeman argumentiert, dass das Streben nach dauerhaftem Glück im Privaten oft zu Frustration und Unglück führt, weil es auf einer falschen Prämisse basiert – nämlich, dass das Leben nur dann lebenswert sei, wenn es frei von Herausforderungen und Enttäuschungen ist. Stattdessen plädiert der Journalist für eine realistischere Sichtweise, die das Leben mit seiner Unvollkommenheit akzeptiert.
Im Scheitern liegt eine Offenheit und Ehrlichkeit, ein bodenständiges Zusammentreffen mit der Realität, das auf den Höhen des Erfolgs nicht zu haben ist.
Oliver Burkeman, „Das Glück ist mit den Realisten – Warum positives Denken überbewertet ist“ (S. 220)
Fazit zu den Büchern von Oliver Burkeman
Wenn ich mir erlaube, den Druck der Produktivität, Selbstoptimierung und des Strebens nach dem (scheinbar) perfekten Leben zu drosseln, fühle ich mich tatsächlich erleichtert. Und wenn ich dann noch daran denke, dass ich von meinen hypothetischen 4000 Wochen schon über die Hälfte verbraucht habe, fällt es mir noch leichter, in Frage zu stellen, ob ich mich in dieser Zeit wirklich weiterhin selbst geißeln will. Zudem versuche ich immer öfter mir den Unterschied vor Augen zu führen zwischen den Erwartungen von Außen und dem, was ich tatsächlich leisten kann, ohne mich zu überlasten. Dazu haben mich die beiden Bücher von Oliver Burkeman auf unterschiedlichen Ebenen inspiriert.
Im Original heißt das erstgenannte Buch übrigens „Four Thousand Weeks: Time Management for Mortals“ und rückt mit dem Wort „Sterbliche“ explizit den Gedanken der Endlichkeit in den Fokus. Wer sich traut, zu akzeptieren, dass es früher oder später endgültig vorbei ist, wer nicht den Mount Everest besteigt oder Millionen scheffelt, um das zu verdrängen, kommt dem eigentlichen Schatz näher: der ganz individuellen Antwort auf die Frage, wie wir zufrieden und dankbar leben können. Das kann bedeuten, dass wir ein Leben führen, dass von außen betrachtet vielleicht nicht besonders erstrebenswert ist, dafür aber umso realer und in letzter Konsequenz „lebendiger“.
P.S. Wie du dir nach dieser Lobeshymne denken kannst, ist meine Vorfreude auf Burkemans neues Buch „Leider nicht unsterblich – Hilfreiche Gedanken für weniger Stress und mehr vom Leben“ bereits groß. Der Erscheinungstermin ist der 10.01.2025, herausgebracht wird es in Deutschland wieder vom Piper Verlag.